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Ein Vortrag von Rechtsanwalt Michael Rietz,
gehalten an der Rechtsfakultät der Universität Montreal,
anläßlich des 4.internationalen Kongresses der internationalen
Gesellschaft für Rechtsmethode, 21.-23.Sept.1995.


Veröffentlicht in: Le Temps Et le droit.
Sous la direction de Pierre-André Côte et Jacques Frémont.
Les Éditions Yvon Blais Inc., Québec(Canada)1996.
ISBN: 2-89451-121-3

Also available in english

Verehrte Kollegen, sehr geehrte Damen und Herren,

ich bin dankbar, daß ich hier die Gelegenheit habe, einen Tatbestand zu beleuchten, der mit unserem Generalthema sehr viel zu tun hat. Als Rechtsphilosoph und früherer Assistent von Herrn Prof. Petev beleuchte ich heute eine Problematik, die sich einem Strafverteidiger in Deutschland bietet und, die ihre Ursachen in unserer heutigen komplexen Wirtschaft hat.

Seit einigen Jahren arbeite ich als Rechtsanwalt in der Wirtschaft, indem ich für die Bundesrepublik Deutschland (Treuhandanstalt) ehemalige Betriebe in Ostdeutschland liquidiere und saniere, um diese in der Marktwirtschaft überlebensfähig zu machen (Privatisierung). Das hier gewonnene Wissen im Wirtschaftsrecht hat mich in ein anderes Betätigungsfeld, nämlich das Wirtschaftsstrafrecht geführt. Mittlerweile verteidige ich Geschäftsleute von Unternehmen, die durch Betrug und andere kriminelle Machenschaften Schäden in Millionen und Milliardenhöhe angerichtet haben. Aus beiden Tätigkeiten habe ich detaillierte und umfassende Einblicke in die wirtschaftlichen Abläufe unserer Gesellschaft erhalten. Die an dieser Stelle vorweggenommene Arbeitsthese des Referats lautet: unser Strafrecht ist den komplexen Manipulationen von Wirtschaftskriminellen, die zu spektakulären Millionenschäden führen, nicht mehr gewachsen.

Durch die zunehmende Internationalisierung der aufgedeckten, vor allem aber noch nicht entdeckter Fälle wäre heute ein internationales und effizientes Strafrecht nötig, oder noch besser, eine internationale Kontrollbehörde mit weitreichenden Befugnissen erforderlich, wenn wir den Zusammenbruch der Strafrechtspflege verhindern wollen. Vor allem möchte ich die besondere Bedeutung der zeitlichen Dimensionen herausstellen. Das Strafrecht greift zu spät ein; während die Täter meist ohne jede zeitliche Beschränkung handeln können (solange die Tat nicht entdeckt ist), muß das Strafrecht aus prozessualen Gründen sehr rasch reagieren (Anklage und Verurteilung). Denn das deutsche Strafrecht ist vom Beschleunigungsgrundsatz geprägt. Staatsanwälte und Gerichte können aber nicht in wenigen Wochen beweiskräftig darlegen, wie die Täter komplexe Manipulationen vorgenommen haben.

Einige Beispiele:

- Der flüchtige Immobilienspekulant Dr. Jürgen Schneider hinterläßt in seinem verschachtelten Immobilienimperium einen Schaden von fast 4 Milliarden DM, und sitzt derzeit in Florida in Auslieferungshaft. Er sagt, er habe nichts Unrechtes getan. Derzeit streiten die amerikanischen und deutschen Behörden um seine Auslieferung.

- Balsam/Procedo (Sportstättenbau) verursachen durch gefälschte Rechnungen bei Banken einen Verlust von über 2 Milliarden DM. Die Ermittlungen haben fast drei Jahre gedauert, der Prozeß, in dem ich Strafverteidiger bin, beginnt erst im nächsten Jahr. Derzeit sitzen sieben Manager, Wirtschaftsprüfer und Rechtsanwälte in Untersuchungshaft.

- Günter Esch, Herstatt Bank, Coop, Neue Heimat, Volkswagen und Opel sind nur die spektakulärsten weiteren Fälle von Wirtschaftskriminalität, die Milliarden DM gekostet hat.

- Das Korruptionsphänomen erstreckt sich auch auf die öffentliche Hand. Verbote Kartell- und Preisabsprachen sind zum unkontrollierbaren Massendelikt geworden.

- In vielen Städten laufen Ermittlungen wegen Beamtenbestechung (vor allem im Baugewerbe). Die Schäden der öffentlichen Hand gehen in die Millionen.

- auf europäischer Ebene ist der Subventionsbetrug weit verbreitet.

Die Bundesregierung und das Parlament haben Untersuchungsausschüsse und Sondergremien eingerichtet, die Analysen und Gesetzesinitiativen zur Vermeidung von Delikten dieser Art lie-fern sollen. Angesichts der Komplexität und Globalisierung dieser kriminellen Erscheinung ist mit einer schnellen Lösung kaum zu rechnen. Hier erneut drängt die Zeit. Denn währen die Gesetzesinitiativen erarbeitet werden, können die Täter weiter (unbehelligt) operieren.

Die auffällige Häufung großer Betrugsskandale in den letzten Jahren ist nicht zufällig. Es liegt ein systematischer Fehler vor, der mit den Mitteln des heute geltenden Strafrechts nicht beseitigt werden kann. So ist unser Strafgesetzbuch und die Strafprozeßordnung (sie stammen aus dem Jahre 1876) nicht in der Lage, auf derart komplexe Sachverhalte adäquat zu reagieren. Die wenigen Anpassungen und Korrekturen, die es seither gegeben hat, haben nur marginale Einschübe (z.B. Computerbetrug, Kreditbetrug) geschaffen, ohne die Ursachen für diese Häufung von Wirtschaftskriminalität zu bekämpfen. Die Strafe, die ihren Zweck in der Vergeltung und in der Einwirkung auf die Täter sieht, verfehlt hier besonders ihren Anspruch. Denn im Gegensatz zu gewöhnlichen Kriminellen, sind die Wirtschaftskriminellen häufig mit Universitätsabschluß und sehr intelligent. Sie lassen sich mit den Mitteln des konventionellen Strafrechts nicht "erziehen". Strafen schrecken diese Täter häufig schon deswegen nicht, weil ihnen das Unrechtsbewußtsein fehlt. Geschädigter ist z.B. der Staat, den man nicht sehen kann. Das Opfer ist anonym. Die Politik (die Gesellschaft) tut wenig, um hier Unrechtsbewußtsein zu pflegen. Auch sind die Tatbeiträge der einzelnen Täter häufig für sich gesehen gering. Erst im zeitlichen Ablauf und der ständigen Wiederholungen (z.B. bei Bilanzfälschungen) kumulieren sich die Schäden.

Und gerade dieser Gedanke spielt im heutigen Wirtschaftsstrafrecht die entscheidende Rolle. Während der einfache Bankräuber alle Stufen seines Verbrechens noch selber plant und eigenhändig ausführt und sich in jedem Stadium seines Tuns das Ausmaß seiner Tat vor Augen führen kann, ist dies bei den heutigen Wirtschaftsstrafen nicht mehr der Fall. Die klassische Trennung im Strafrecht zwischen Täter und Opfer ist in diesem Bereich aufgehoben. Dies wird im Steuerstrafrecht besonders deutlich. Hier schreitet der Werteverfall dramatisch voran. Steuerehrlichkeit ist zum Fremdwort geworden.

Geschädigter ist die Allgemeinheit. Die späteren Opfer sind aber auch häufig wissentlich oder unwissentlich Gehilfen der Tat. Gerade die Leichtigkeit und der sich daraus ableitenden Zwangsläufigkeit des Tuns, schneidet die Täter von ihrer Freiheit ab, sich eigenverantwortlich gegen das Recht und für das Unrecht zu entscheiden. Damit fehlt ihnen aber der Anknüpfungspunkt für gerechtes (schuldangemessenes) Strafen. Der Eintritt des Schadens ist meist nicht gewollt. Damit rechtfertigt der Täter das einmal begonnene Tun, in das er sich nun systematisch und unausweichlich immer weiter verstrickt. Am Ende steht die eigene Existenz die des Betriebes und über 100 oder gar 10 Tausend Arbeitsplätze auf dem Spiel. Da gibt es dann kein Zurück mehr. Sie müssen zwangsläufig handeln bis zum bitteren Ende (wenn die weiteren Taten nur durch die Entdeckung der Tat von den Strafverfolgungsbehörden verhindert werden).

Jedoch ohne die Tatbeiträge der Opfer sind die modernen Erscheinungsformen der Wirtschaftskriminalität nicht mehr erklärbar. Häufig ermöglicht das risikofreudige Gebaren von Banken dort eine Betriebsblindheit, die verhindert, daß Manipulationen frühzeitig entdeckt werden.

In den internationalen Finanzmärkten und den in letzter Zeit immer stärker gehandelten Finanzderivaten (Futures & Options) liegt die zur Zeit größte Gefahr für den internationalen Crash unserer Finanzmärkte. Diese Aussage stammt von meinem Mandanten Herrn Schlienkamp, zur Zeit Hauptangeklagter in einem der größten Betrugsskandale des Nachkriegsdeutschlands. Herr Schlienkamp hat an den internationalen Finanzmärkten mit mehreren Hundertbillionen USD gehandelt und durch betrügerische Manipulation fast 20 Banken um rund 1,7 Mrd. DM geschädigt. Und viele großen Versicherungen, Banken, PrivatAnlegerFonds und andere institutionellen Anleger (sogar Staaten selbst) beteiligen sich an diesen Milliardenwetten an den Börsen. Jeden Tag werden an allen Börsen der Welt Devisenterminkontrakte in Höhe von Billionen USDollar, das heißt das mehrfache der weltweit verfügbaren Geldmengen getätigt. Nur weil diese Kontrakte bloße Wetten sind, die sich gegenseitig aufheben, ist der große Crash bisher ausgeblieben. Sollten aber diese Wetten irgendwann einmal tatsächlich eingelöst werden müssen, steht die Wirtschaft vor dem finanziellen Ruin.

In der internationalen Finanzwelt werden gigantische Schäden nicht mehr bloß durch arbeitsteilig handelnde Individuen verursacht, sondern sogar von entsprechend programmierte Computer internationaler Institutionen Kauf- und Verkaufsentscheidungen nach entsprechenden Chartanalysen ganz allein getätigt (Computerhandel). Der "Täter" ist hier kaum noch zu benennen. Dies ist eine augenfällige Schwäche unserer Finanzwelt.

Man kann es allgemein wenden und sagen, daß gerade das gesellschaftliche Streben nach Innovation und immer schnellerer Veränderungsdynamik ist ein Zug unserer Zeit ist. Zeit ist im System des Wirtschaftslebens ein wichtiger Faktor (time is money). Ich denke z.B. an die starken Synchronisationsbestrebungen im produzierenden Bereich großer Unternehmen (z.B. just in time production). Der wirtschaftliche Trend zur Minimierung des Zeitaufwandes bringt überall zusehends Zeitzwänge mit sich. Hier entsteht eine Zeitspirale, die zur psychischen Überbelastung des Menschen führt. In diesem Zeitdruck findet heute Wirtschaftskriminalität statt.

Die Impulse für die erforderliche Gegensteuerung können keinesfalls allein vom Strafrecht ausgehen. Der Gegentrend muß gesellschaftlich provoziert werde. Systematische Ansätze werden bisher kaum geliefert. So ist es nicht verwunderlich, daß es die einzigen Ansätze zu solchen Gegenbewegungen bisher nur vereinzelt gibt. Diese Gegenbewegungen haben einige gesellschaftliche Gruppen installiert. Diese Gruppen drängen die Bedeutung von Geld und Zeit in den Hintergrund. Sie versuchen, eher Vergangenes zu bewahren, (z.B. Museumskultur, Sanierung alter Stadtviertel, Rückbesinnung auf die eigene Herkunft, Wurzeln der eigenen Kultur, u.s.w.) und dadurch dem zeitlichen Diktat zu entkommen.

Andererseits gibt es aber auch andere, bedenkliche Versuche durch die Flucht aus Zeit und Recht die aufgezeigte Dynamik zu überwinden, vor allem gerade bei Jugendlichen durch Drogenkonsum, Extremsportarten, Rückzug aus der Zivilisation und der Zuwendung zu Sekten. Sinnstiftung erscheint daher ebenso notwendig wie ein reformiertes Wirtschaftsstrafrecht. Und gerade die Philosophie und die Philosophie des Rechts könnte hier wertvolle Hilfe leisten. Denn um die Formulierung sinnstiftender Elemente und ethischer Wertevorgabe kommt ein solches Strafrecht nicht mehr umhin. Wir müssen die lange verteidigte These aufgeben, daß der Staat nicht Sittenwächter einer Gesellschaft sein darf. Diese Erkenntnis hat sich auch in unmittelbar scheinbar bedrohlicheren Bereichen der Gesellschaft heute etabliert (Ächtung der Nuklearbomben, Etablierung einer gesetzlich kodifizierten Bioethik). Eine solche Wirtschaftsethik tut Not.

Immerhin hat mir Herr Schlienkamp, mein Mandant, der als Finanzchef bei Balsam mit Billionen handelte, erklärte, daß er den bisher unentdeckten Millionenbetrugsskandal nur deshalb gestanden hatte, weil er religiös und ethisch-moralisch hierzu motiviert war.

Ich glaube, ich brauche diese These nicht vertiefen. Das Strafrecht, das immer nur repressiv reagieren kann ist hier nicht das geeignete Instrumentarium, auf diese Erscheinungen adäquat zu reagieren. Präventive Maßnahmen, die nur von einer Rechts- und Moralphilosophie geliefert werden könnten, sind daher erforderlich. Sie setzen indes voraus, daß die soziologischen Ursachen für die Fehlentwicklung erkannt und analysiert werden. Zu einem dieser Befunde gehörte sicher die Tatsache, daß die präventiven Kontroll- und Eingriffsbefugnisse stark ausgebaut werden müssen. Große Konzerne und Banken agieren heute mit Budgets, die zusammen ein vielfaches des Bruttosozialproduktes der Staaten darstellen. Hilmar Kopper, Präsident im Aufsichtsrat der Deutschen Bank, kommentierte daher den Verlust der Deutschen Bank anläßlich des Schneider-Desasters in Höhe von über 300 Millionen USD als Peanuts für seine Bank. Die Verantwortungslosigkeit, die von Spitzenmanagern in unserer Wirtschaft vorgeführt wird, findet hier wohl sein trauriges Beispiel. So müßten die Kontroll- und Überwachungsfunktionen von Aufsichtsräten verstärkt werden. Hier könnten die größten Fehler bei effizienter Überwachung schnell erkannt und ausgeschaltet werden.

Die unsere Weltgemeinschaft allenthalben nur noch regierende Größe Geld und Zeit muß aus dem Vordergrund verdrängt werden. Meine Erfahrung in den Wirtschaftsprozessen hat gezeigt, daß selbst erfahrene Banker und Manager sich mit Blick auf die außerordentliche Rendite täuschen lassen, sie in Ehrfurcht großer Namen erstarren, anstatt ihren kritischen Verstand walten zu lassen. Es ist heute für den dubiosen Geschäftsmann leichter für ein bankrottes Unternehmen bei einer Bank einen kurzfristigen 100 Millionen USD Kredit zu erhalten, als wenn ein Professor bei derselben Bank für ein sehr aussichtsreiches zukunftsträchtiges Forschungsvorhaben für sagen wir den Umweltschutz einen langfristigen 50.000 USD Kredit erhalten möchte. Wenn selbst in Gelddingen Vertraute Bürger jedes Jahr über 100 Billionen Dollar weltweit in den unseriösen grauen Kapitalmarkt investieren (um ihr Geld schließlich zu verlieren), weil ihnen Renditen von 50% im Jahr versprochen werden, dann liegt ein systematischer Fehler vor. Die Kritische Vernunft muß wieder zum Sachwalter finanzieller Interessen bestellt werden. Dies wird, so überraschend es klingen mag, nicht einfach sein. Die Hauptursache liegt in unserer Gesellschaft selbst, in der traditionellen Wertvorstellungen zusehends verfallen. In der Zeit, in der unsere Strafgesetze entstanden sind, gab es noch den ehrbaren Kaufmann, der durch Klugheit und Weitsicht ein prosperierendes Unternehmen schuf und verwaltete. In der heutigen Zeit jedoch, in der Cleverness und Verschlagenheit mehr gilt als Klugheit, wird der ehrbare Kaufmann zur allseits belächelten Figur.

Ich will nicht dramatisieren, aber: In vielen Bereichen lassen sich also deutliche Tendenzen einer Erosion des Rechtsstaates ausmachen, mit starken Krisentendenzen, die in der aufgezeigten unzureichenden Institutionalisierung rechtlich präventiver Prinzipien mit Blick auf die neuen Erscheinungsformen von Wirtschaftskriminalität beruhen. Internationale Wirtschaftskriminalität hat heute weltweite Folgen. Es muß daher endlich global gedacht werden. Unter Aufgabe der nationalstaatlichen Souveränität müßte eine Weltstrafrechtsordnung und eine Wirtschaftsethik etabliert werden. Ich hoffe, daß ich gezeigt habe, daß dies möglich ist. Diese Reformbemühungen scheitern auch nicht am Einwand der Komplexität und damit der Undurchführbarkeit. Denn wenn die These von der Aufgabe des Rechts als Reduktion sozialer Komplexität je gestimmt hat, dann ist sie heute aus der Sicht eines internationalen Strafverteidigers aktueller denn je. Dann ist es keine gesellschaftliche Utopie mehr, zu verlangen, daß Zeit und Recht derart wieder in Resonanz (besser Einklang/Konkordanz) gebracht werden, daß die Gesellschaft durch kluge Institutionalisierung auf sich selbst einwirkt. Unmöglich ist diese Aufgabe wirklich nicht.

Die internationale Rechtswissenschaft und auch dieses Symposium hier bleiben aufgerufen, Signale zu geben. Die Gesellschaft beginnt dann ihre Unfähigkeit zur normativen (Selbst) Thematisierung des hier behandelten Bereichs der Wirtschaft zu überwinden. Ich kann nur hoffen, daß wir heute morgen den ersten Schritt hierzu getan haben. Wenn nicht bald gehandelt wird, vergrößert sich die Krise des Rechtsstaates weiter.

Staatsanwaltschaften und Gerichte sind inhaltlich derartig überfordert, daß sich die Strafverfahren in den großen Prozessen mittlerweile bis über 5 Jahre hinziehen. Im Balsam Verfahren hat der Justizsprecher des Gerichtes gesagt, daß der Vorsitzende Richter eigentlich 4 Jahre bräuchte, um die 900-seitige Anklageschrift und die 360 000 Blatt Beweismittel zu studieren. Für den Prozeß selbst sind über 300 Zeugen, Sachverständige und Gutachter zu hören, die über eine Materie berichten werden, mit der sich bisher kein Staatsanwalt, Richter oder Rechtsanwalt beschäftigt hat (außer ganz wenigen Spezialisten). Es gibt aber in Deutschland keine spezielle Ausbildung zum Wirtschaftstaatsanwalt oder Richter. Auch die Ausbildung zum Rechtsanwalt streift das Wirtschaftsrecht nur am Rande. Während die Unternehmen mit einer ganzen Schar von Spezialisten mit Hilfe von modernsten Computern Bilanzverfälschungen betreiben, gibt es Staatsanwälte, die mir gesagt haben, daß sie ihre Verfügungen noch von Hand schreiben, weil die finanziellen Mittel für moderne Bürokommunikation beim Staat nicht vorhanden sind. Auch die Kooperation der einzelnen nationalen Behörden funktioniert nicht. Die Beschlagnahme von Geld im Ausland steht häufig vor unüberwindbaren Hindernissen. In Deutschland z.B. kann man zwar rechtlich die Telefonleitung bei Durchsuchungsaktionen stillegen lassen, aber nicht die Datenleitung ins Ausland, weil ein Abkommen mit den Netzbetreibern fehlt. Noch während der Durchsuchung verschwinden so die Daten in ausländische Computer, um sie dann später wieder nach Deutschland zu übertragen. Wenn mit so ungleichen Mitteln gegen Wirtschaftskriminalität gekämpft wird (von Kampf kann hier eigentlich keine Rede sein), wundert es nicht, daß die Weiße-Kragen-Täter so leichtes Spiel haben.

Der Sinn des Strafrechts geht dann völlig verloren. Es muß daher zukünftig verhindert werden, daß solche komplexen Wirtschaftsstrafverfahren immer häufiger stattfinden. Da sie, wie bereits gezeigt ihre erzieherische Wirkung auf die Straftäter ohnehin verfehlen, sind sie überflüssig. Sie taugen aber auch nicht einmal mehr dafür, die systematischen Fehlerquellen zu isolieren. Im übrigen stehen sie im Widerspruch zum allgemeinen Gedanken jeden Strafrechts, das vom Beschleunigungsgrundsatz bestimmt ist, wonach der Straftäter rasch abzuurteilen ist. Denn bis zur Verurteilung sitzen die Beschuldigten von Wirtschaftsstrafverfahren häufig in Untersuchungshaft, obwohl sie bis zur Verurteilung als unschuldig zu gelten haben. Aber selbst wenn es dann nach Jahren zur Verurteilung kommt, geht der Strafzweck fehl. Statt intelligente Spitzenmanager, die Täter (und Opfer zugleich) des Systems geworden sind, mit gewöhnlichen Kriminellen (Räubern und Mördern) in Hochsicherheitsgefängnissen zu kriminalisieren, sollte man von der auch im deutschen Strafrecht bereits etablierten Verfahrensweise Gebrauch machen, gesellschaftlich wertvolle Arbeit als Wiedergutmachung im Urteil zu verlangen. Eine so verstandene "Strafe" außerhalb des Gefängnisses würde der Verteidigung der Rechtsordnung viel mehr dienen. Schadenswiedergutmachung und Übertragung gemeinnütziger Aufgaben wären die gesellschaftlich angemessene Reaktion auf das abweichende Verhalten der "White collar criminals".

Durch Verstärken solch positiven Verhaltens, wie es heute in der Psychologie allgemein anerkannt ist, würde die Gesellschaft sich selbst und den Tätern den besseren Dienst erweisen. Umfang und Ausmaß der gemeinnützigen Tätigkeit müßten sich in einem Katalog am Ausmaß der Schuld der Wirtschaftsstraftäter orientieren. Aus der Scheinanpassung, die das bisherige Strafrecht (Strafvollzug) bei diesen Tätern provoziert, würde dann echte Einsicht wachsen. Und die Gesellschaft heilt mit dieser Methode den vom Täter angerichteten Schaden, indem sie sich zeigen läßt, wie solche Taten zukünftig im Ansatz verhindert werden können. Ein so verstandenes Strafrecht diente dann wieder dem großen rechtsphilosophischen Ziel: alles menschliche Handeln - jenseits von Zeitströmungen und legislativer Unvollkommenheit - einer wohlverstandenen sozialen Gerechtigkeit zu unterstellen.