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Der spektakulärste deutsche Wirtschaftsprozess geht zu Ende. Doch der Haupttäter ist verschwunden, und viele Rätsel der Milliardenpleite der Balsam AG bleiben ungeklärt.
Am 190. Verhandlungstag bat der Angeklagte mit der schmalen Lesebrille die Richter um Gehör. Langatmig trug er der 9. Großen Strafkammer des Landgerichtes Bielefeld zunächst Altbekanntes vor: Er habe sich nie etwas zu Schulden kommen lassen, und "von den Machenschaften" in seinem Betrieb habe er nichts gewusst. Dann brach es aus dem ehemaligen Unternehmer Friedel Balsam, 57, heraus. "Es muss Schluss, Schluss, Schluss sein", rief er aufgeregt. Naoch immer werde der Name Balsam regelmäßig durch den Schmutz gezogen, die Belastungen seien "unerträglich, alle sind ausgelaugt". Nach dem Wortschwall nahmen Balsams Anwälte alle zuvor gestellten Beweisanträge zurück. Kommende Woche wird das Verfahren über die Pleite des ostwestfälischen Sportbodenherstellers, bei dem rund zwei Milliarden Mark versickert sind, zu Ende gehen - und damit einer der spektakulärsten deutschen Wirtschaftsprozesse. Nach über drei Jahren Dauer sitzt von ursprünglich sieben Beschuldigten nur noch Balsam auf der Anklagebank, die anderen sechs wurden zuvor freigesprochen oder milde abgeurteilt - der Hauptangeklagte aber ist verschollen. Rund zehn Millionen Mark kostete das Verfahren, fast 200 Zeugen wurden befragt und 400 000 Blatt Beweismaterial gesichtet. Der Mammutprozess offenbarte, dass deutsche Gerichte selbst bei sorgfältigster Arbeitsweise überfordert sind, komplexe Betrügereien von Spitzenmanagern aufzuklären. In der Balsam AG wurde so filigran mit Luftbuchungen, gefälschten Belegen und Urkunden jongliert, dass selbst der vom Gericht eingesetzte Wirtschaftsprüfer nicht mehr durchblickte. Kleinlaut musste der bestellte Sachverständige seinen Vortrag vor Gericht nachträglich in mehreren Punkten revidieren. Schon vor den prozessualen Diskussionen um das Zahlen-Wirrwarr hatte sich der Korruptionsskandal in einem spielfilmreifen Wirtschaftskrimi gewandelt. Am 16. November des vergangenen Jahres war bei den Richtern ein Brief eingegangen: Absender Klaus Schlienkamp, der Hauptbeschuldigte. In krakeliger Schrift teilte der ehemalige Finanzchef der Strafkammer mit: "Wenn Sie diesen Brief erhalten, werde ich nicht mehr am Leben sein." Mit seinem Geständnis habe er einen "Schlussstrich unter die Vergangenheit ziehen wollen". Doch dies sei wohl nicht möglich gewesen: "Ich will nicht mehr, für mich ist alles zu Ende." Seitdem rätseln Ermittler, Richter und Anwälte, ob sich Schlienkamp in die Karibik abgesetzt oder tatsächlich Selbstmord begangen hat. In seinen 20 Arbeitsjahren bei Balsam hatte Schlienkamp Aufstieg und Fall des Unternehmens betrieben. Mit einem Bruttogehalt von 2000 Mark fing der Industriekaufmann 1974 als Kalkulator bei dem von ihm als "Motzkopf" gefürchteten Balsam an. Die Firma expandierte, Schlienkamp übernahm neue Geschäftsfelder in den USA und bald auch die Verantwortung, als der einstige Familienbetrieb durch rapiden Wachstum in "Liquiditätsenge" geriet. Schlienkamps Methoden der "wundersamen Geldvermehrung" waren anfangs noch völlig legal: Eingegangene Auftragsbestätigungen schickte er an die Wiesbadener Finanzierungsfirma Procedo weiter. Der Inkassobetrieb streckte vor und lieh sich seinerseits das ausgelegte Geld bei verschiedenen Banken. Aufsteiger Schlienkamp fühlte sich als Retter der angeschlagenen 1600-Mann-Firma, als eine Figur wie "Robin Hood". Im Betrieb habe das Motto gelautet: "Kläuschen, Du machst das schon." Als das Unternehmen immer mehr Kapital benötigte, manipulierte Schlienkamp die Auftragsbestätigungen. Ein Geschäft in den USA erhöhte er kurzerhand von 569 000 auf 9,56 Millionen Dollar. Und als die Fälschungen nicht mehr ausreichten, erfand Schlienkamp Projekte irgendwo auf der weiten Welt. Regelmäßig bekämpfte er samstags seine Skrupel mit Rotwein, Obstbrand und Cognac, fuhr ins Büro und erstellte am Schreibtisch virtuelle Aufträge. Im Juli 1994 brach Schlienkamps Münchhausen-Gebilde zusammen. Der Finanzvorstand war geständig: Unter der Überschrift "Das Milliardengrab" verfasste er in der Untersuchungshaft ein 230-seitiges Werk über die Abzockerei. Die Tatsache, dass ein alkoholkranker Kaufmann mit simplen Tricks fast 50 Banken betrügen konnte, habe, so Oberstaatsanwalt Klaus Pollmann, "die Finanzwelt zutiefst erschüttert". Doch schon kurz nachdem die Wirtschaftsstrafkammer im April 1996 mit der Aufarbeitung begann, war klar, dass es dem Gericht nicht gelingen würde, der Wahrheit auf den Grund zu kommen. Nach und nach dünnte sich bei allerdings noch nicht rechtskräftigen Urteilen die Anklagebank aus: · Wirtschaftsprüfer Rolf Muscat, Bilanzprüfer von Procedo, wurde im Mai vom Vorwurf des Betrugs freigesprochen. · Die Verfahren gegen die Balsam-Vorstände Dietmar Ortlieb und Horst Bert Schultes wurden im Juni gegen Zahlung von je 100.000 Mark eingestellt. · Procedo-Chef Dieter Klindworth und sein Prokurist Ulrich-Helmut Brandenberger erhielten am 1. Juli wegen Kreditbetruges zweieinhalb Jahre beziehungsweise 21 Monate Haft. Schlienkamp hatte nach seinem umfänglichen Geständnis auf einen Deal mit den Reichtern, zumindest aber auf eine schnelle Aburteilung gebaut. Als Vorbild sah er das Verfahren gegen den englischen Finanzjongleur Nick Leeson, der mit seinen Devisenspekulationen die Londoner Barings Bank in den Ruin getrieben hatte. Der geständige Banker war von einem Gericht in Singapur nach nur einem Verhandlungstag zu sechseinhalb Jahren Haft verurteilt worden. Aber die Bielefelder Richter bestanden darauf, dass sich Schlienkamp in die Reihe der Angeklagten, die jede Mitschuld bestritten, einzureihen habe. Mit der Zeit wurde er immer ungeduldiger. "Egal, ob er am Ende geflüchtet ist oder ob er sich getötet hat", sagt Schlienkamps Anwalt Michael Rietz, " alle Prozessbeteiligten müssen sich fragen, ob sie nicht dazu beigetragen haben, dass er verschwunden ist." Er mache keinen Hehl aus seinem Glauben, sagt Staatsanwalt Pollmann, dass Schlienkamp noch lebt und "dass irgendwo noch Geld steckt". Doch obwohl seine Leute jedem Hinweis nachgegangen seien, hätten sie dies bis heute nicht belegen können. Nur in der Heimat kamen die Ermittler Schlienkamp noch einmal auf die Schliche. Zumeist bei Bekannten hatte er mit Hilfe seiner Ehefrauf 1,8 Millionen Mark eingesammelt, um zu spekulieren. Im letzten Oktober war das Geld bis auf 78 000 Mark verzockt - einen Monat später verschwand er. Mit all diesen unappetitlichen Vorgängen werde er als Namensgeber des Verfahrens immer in Verbindung gebracht, beschwerte sich Friedel Balsam, für den die Staatsanwaltschaft neun Jahre und sechs Monate Haft beantragt hat. Selbst als sich kürzlich Dieter Zurwehme in Ostwestfalen herumgetrieben hat, sei er sofort ins Visier der Öffentlichkeit geraten. Wie selbstverständlich sei sein ehemaliges Anwesen "als Zufluchtsort" für den flüchtigen Mörder ausgemacht worden.
Der Spiegel Nr. 36/1999 |
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